Das Gemälde, das die Blicke des Betrachters zuerst auf sich zieht, ist
zugleich das erste des Zyklus der Hauptbilder. Es ist durch seine
Position und durch den Lichteinfall begünstigt und zeigt eine Szene
aus dem Leben der Heiligen Elisabeth, die allen Marburgern zur
Entstehungszeit der Gemälde bekannt gewesen sein dürfte: "Die h.
Elisabeth und ihr geistlicher Zuchtmeister Konrad von Marburg. 1230",
so lautet die Bildunterschrift.
Man sieht in einen Krankensaal hinein, auf dessen Fliesenboden die
Heilige vor dem Fußende eines Bettes kniet; sie wendet sich leicht dem
hinter ihr stehenden Konrad von Marburg zu, der mit einer nicht ganz
verständlichen Gebärde sein Beichtkind bedroht.
Der Krankensaal, die Geste, kurz das ganze Sujet hatte schon die
Zeitgenossen erstaunt, und die Verantwortlichen in der Senatskommission,
allen voran der Historiker von Sybel, formulierten ihre Bedenken in
einer Eingabe an den Kultusminister in Berlin.
Zu dem Geiste des dreizehnten Jahrhunderts, wie er durch die Heilige
und den Ketzerrichter repräsentiert wird, steht der Geist unserer
Universität in ausschließendem Gegensatz." Man empörte sich nicht nur über
das Thema überhaupt, sondern auch über den " Wutausbruch", die "Nichtachtung
der Kranken" und stieß sich auch an dem Gesicht der "hübsche(n) junge(n)
Barfüßerin". Dieses Gemälde dürfe nicht eingefügt werden, es verletze
"beständig" ..."die Gefühle der an unseren Festlichkeiten teilnehmenden
Mitbürger und Frauen jeder Konfession." (Die Zitate sind Dietrich Biebers
Dissertation über Peter Janssen entnommen.) Was die Gefühle so verletzte,
kann man nur noch auf dem Entwurf des Gemäldes im Universitätsmuseum
erkennen:
dort reißt sich Konrad den geknoteten Geißelstrick vom Leibe, um
"ihn doppelt genommen auf die Rückseite der liebevoll Beschäftigten
niederfallen zu lassen", wie es bei v. Sybel heißt.
Außer der angeblichen oder wirklichen Entrüstung iiber den Realismus
in der Malweise Janssens klingt hier, wie Dietrich Bieber zu Recht vermutet,
gekränkte Eitelkeit an, denn Janssen hatte entgegen dem Vorschlag der
Senatskommission, die die Südwand für Bilder der Kaiser Wilhelm I. und
Wilhelm ll. rechts und links von Philipp dem Großmütigen, dem Gründer der
Universität, hatten reserviert sehen wollen, ein anderes Konzept entwickelt.
Als Kompromiß entfiel der Strick, so daß die Haltung des wütenden
Zuchtmeisters etwas unmotiviert Theatralisches erhält. Daß dieses Bildthema
in ein genau bedachtes Konzept paßt, wird klar, wenn man den gesamten Zyklus
bedenkt. Mit diesem Bild sollte die durch die Reformation überwundene
ungeistige Religiosität des katholischen Mittelalters gezeigt werden. Die
Figuren um Konrad verweisen wie anklagende Intriganten auf die Heilige, die
entgegen der Anordnung ihres Beichtvaters wieder selbstlos Kranke pflegt.
Wie geschickt Janssen es verstand, eine Bildmitte aufzubauen, zeigen viele
Einzelheiten: der weiße Schleier der Büßerin hebt sich als einziges klares
Weiß deutlich vom Grauweiß der Betten oder von der Kutte Konrads ab. Der
Betrachter blickt unwillkürlich mit den Kranken von rechts vorne und von
hinten rechts zur Heiligen oder mit der sie überragenden, stehenden Gruppe
um Konrad, die auf Elisabeth niederschaut oder sogar auf sie zeigt. Auch
Konrads schwarzes Skapulier läuft auf die Erniedrigte zu.