Das Bild, dem durch seine Größe -das vorhergehende Bild ist zwar etwas breiter aber durch den Türbogen beschnitten - und seine Position die größte Bedeutung zugemessen wird, trägt die Unterschrift "Die Reformatoren ziehen zum Religionsgespräch ein, empfangen von Philipp dem Großmütigen. 1529". Es ist als einziges der sieben Monumentalgemälde von Peter Janssen signiert.
Auch gedanklich bildet es die Achse, den Mittelpunkt des
gesamten Zyklus. Philipp hatte schon 1526 die neue Lehre in seinem Land
eingeführt und ihr eine ideelle wie materielle Basis geschaffen. Um das
Bündnis der evangelischen Reichsstände gegen den Kaiser zu festigen, lud er
1529 die Vertreter der unterschiedlichen Richtungen der reformatorischen
Lehre, Luther und Zwingli, zu einem Gespräch über Hauptpunkte des Glaubens
nach Marburg ein.
Janssen hält in seinem monumentalen Gemälde den Augenblick fest, bei dem
sich die in schlichtes Schwarz gekleideten Reformatoren und ihre Begleiter
von links vorne den Fürsten nähern, die sie vor dem Eingang zur Burg am
rechten Bildrand erwarten. Die farbig gekleideten Herrscher, Philipp und
sein Verwandter, Ulrich von Württemberg, der 1519 vom Schwäbischen Bund
vertrieben worden war, schauen erwartungsvoll auf die Ankommenden; Philipp
streckt seine Hände den heranschreitenden Reformatoren entgegen. In der
Mitte der ersten Reihe geht, durch seine Größe und durch einen mächtigen
Pelzkragen herausgehoben, Martin Luther; neben ihm, kleiner und schmaler,
Melanchthon. Beide entsprechen in ihrem Habitus den Gemälden und Stichen des
16. Jahrhunderts. In der zweiten Reihe betont Janssen den geistigen Gegner
Luthers, Ulrich Zwingli, durch Körpergröße und durch einen grauschwarzen
Schulterkragen und Aufschlage an den Ärmeln.
Obgleich man die Reformatoren nur im Halbprofil oder gar von hinten sieht,
hat Janssen durch den Bildaufbau erreicht, daß die Reformatorengruppe den
Mittelpunkt bildet. Die Architekturteile weisen auf sie hin, der Wehrturm
der Burg überragt sie, der Burgweg macht gerade hier eine Biegung. Die
drängende, neugierige Menge umgibt die evangelischen Männer von allen
Seiten. So konnte Janssen stärker noch als in den Bildern der Ordensritter
und der Ausrufung des Landes Hessen Bürgerporträts gestalten und die
Anteilnahme der durchweg gutsituierten Bürger psychologisch im Stil der
Historienmalerei differenzieren. Das schließt einen gewissen Eindruck von
Theaterkulisse und gestellter Pose bei einigen Figuren nicht aus. Um den
Diagonaleffekt und die Hervorhebung der Bildmitte zusätzlich zu betonen, hat
der Maler eine absurde Konstruktion der Burgbefestigung erfunden: Die Treppe
zum Wehrgang und dieser selbst verlaufen außen an der Burgmauer entlang -
für jeden Feind ein willkommener Zugang! Dieser Aufbau gibt allerdings
Gelegenheit zum Arrangement weiterer Personen. Auch der Blick in die
herbstliche Landschaft am linken oberen Bildrand verstärkt das Konstruierte,
ohne dem Gemälde eine sonderliche Tiefenwirkung zu geben.
In diesem Bild ist viel vom Selbstverständnis des Kaiserreichs von 1871
enthalten: Ein großmütiger Fürst sorgt sich um die Einheit im evangelischen
Glauben und regt zu geistiger Auseinandersetzung an. Der preußische König
und Deutsche Kaiser Wilhelm II. ließe sich hier als geistiger Nachfolger
Philipps einsetzen.
Ein unvoreingenommener Betrachter hatte bei dem Thema "Religionsgespräch"
eher an das Gespräch von 1529 im Schloß selbst gedacht oder an seinen im
entscheidenden Punkt strittigen Ausgang. Diese Szene war vermutlich der
Zielgruppe, für die der Festraum gedacht war, durch das Gemälde August
Noacks von 1869, das heute im Schloß hängt, vertraut. Dort weist Luther
hartnäckig mit dem Finger auf das entscheidende Wort in der Abendmahlslehre
hin: "έστιυυ".
Aber nicht der unüberbrückbare Gegensatz in der Disputation oder Luthers
tatsächlicher Mißmut dem ganzen Engagement Philipps gegenüber werden
gezeigt, nein, das Bild Janssens strahlt Ernsthaftigkeit und Harmonie aus
und betont fürstliches Entgegenkommen. So verstand auch der preußische König
seine Aufgabe im neugegründeten Reich. Da Staatskirchenrecht und
Erziehungswesen auch nach der Reichsgründung von 1871 weiterhin
Angelegenheiten der Einzelstaaten geblieben waren, konzentrierten sich
die schon seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts bestehenden
Konflikte zwischen der evangelischen preußischen Regierung und der
katholischen Kirche hauptsächlich in Preußen und seinen Provinzen.
Ab 1871 hatte sich in diesen Gebieten in der Phase des beginnenden "Kulturkampfes" eine Stimmung entwickelt, die
auf beiden Seiten in vielem überzogen war und in der die Katholiken, wie
später die Sozialisten, von Bismarck zu "Reichsfeinden" erklärt wurden. Die
Angst vor dem " Ultramontanismus", einer angeblichen Bestimmung der
katholischen Bevölkerung von außen, von Rom, ließ ihn so gereizt reagieren.
Die Erfurter Gründungsurkunde des "Evangelischen Bundes" von 1886
illustriert diese Stimmung besonders gut. Sein Ziel war es u. a., die
"Lebenskräfte der Reformation im deutschen Volk lebendig zu erhalten" und
die "deutsch-protestantischen Interessen" zu wahren. In ähnlicher Richtung
arbeitete die " Gustav-Adolf-Gesellschaft".
In diesem Zusammenwirken von " Thron und Altar" sollte das Reformatorenbild
in der Aula gesehen werden. Die Kultusbehörde und der Maler Peter Janssen
spiegeln durch die Wahl gerade dieser Szene das Selbstverständnis des
Wilhelminischen Deutschlands wider: Der Deutsche Kaiser als Einiger der
evangelischen Kirchen fühlt sich mit Luther im Bunde. Bismarck verkündete
noch 18S2 nach seiner Entlassung in Jena: "Ich bin eingeschworen auf die
weltliche Leitung eines evangelischen Kaisertums, und diesem hänge ich treu
an. .." Daß die unmittelbaren Adressaten der Bilder in Marburg ähnlich
dachten, läßt sich in der Antrittsrede des Rektors Carl Mirbt nachlesen, die
er am Tag der Enthüllung der Aulabilder, dem 18. Oktober 1903, aber ohne
ausdrücklichen Bezug auf sie. mit dem Thema "Der Zusammenschluß der
evangelischen Landeskirchen Deutschands" hielt. Er sah "in der Gründung des
deutschen Reiches die lang gehegte Hoffnung des deutschen Volks ihre
Erfüllung" finden und die "Einheitsbewegung der evangelischen Kirchen" damit
"zu mächtiger Fluth anschwellen".